Die Denkmuster einer Person spielen in der Psychotherapie eine wichtige Rolle. Denn oftmals leiden Patient/-innen an so genannten dysfunktionalen Kognitionen. Sie ziehen voreilig Schlüsse («mich will so oder so niemand bei der Party sehen»), übergeneralisieren negative Erlebnisse («ich habe diese Prüfung nicht bestanden; ich werde mein Studium auch nicht bestehen») oder haben bestimmte Vorstellungen («ich muss perfekt sein»). Dieses kognitive Muster kann die Wahrnehmung, Interpretation und das Gedächtnis negativ verzerren. Es wird angenommen, dass Kognitionen besonders in der Entstehung und Aufrechterhaltung von depressiven Störungen von zentraler Bedeutung sind. Im folgenden Beitrag stellen wir das Grübeln (auch Rumination genannt) als dysfunktionalen Denkprozess vor.
Das Grübeln ist ein passiver, sich wiederholender und anhaltender negativer Denkprozess. Es beinhaltet Gedanken über das eigene Selbst, einschließlich persönlicher Sorgen, Gefühle und Erfahrungen. Grübeln kann oftmals – nebst weiterer kognitiver Störungen – ein Symptom der Depression darstellen. Der Begriff des Grübelns wurde von Susan Nolen-Hoeksema geprägt, der Begründerin der Reaktionsstil-Theorie. Sie beobachtete, dass depressive Patient/-innen unterschiedlich auf ihre Störung reagieren. Diese Reaktionen auf die Depression wiederum, so meinte Nolen-Hoeksema, habe einen Einfluss sowohl auf den Schweregrad als auch auf die Dauer ihrer depressiven Verstimmung. Sie identifizierte zwei primäre Reaktionsstile bei depressiven Patient/-innen: einerseits Ablenkung und andererseits Grübeln.
Die Ablenkung verlagert den Fokus weg von den Symptomen der Depression hin zu neutralen oder angenehmen Gedanken oder Aktivitäten. Dies scheint eine positive Wirkung zu haben und die depressive Stimmung zu lindern, da die ablenkenden Aktivitäten zu einer positiven Verstärkung führen oder die maladaptive Selbstbeobachtung unterbrechen können. Mehrere Studien unterstützen auch die Annahme der positiven Wirkung von Ablenkung. Die Studien berichten, dass Ablenkung mit einem geringeren Niveau depressiver Symptome in Verbindung gebracht werden kann. Außerdem scheint ein ablenkender Reaktionsstil mit einer höheren Lebensqualität und positiveren Emotionen zusammenzuhängen. Jedoch berichtete Nolen-Hoeksema, dass langfristig die Ablenkung ihre positive Wirkung verliert und sogar häufig zu einem höheren Grad an Depression führen kann. Desweiteren gibt es auch inhärent unangemessene Möglichkeiten, sich von einer depressiven Stimmung abzulenken, wie z. B. rücksichtsloses, gefährliches und gewalttätiges Verhalten. Demnach scheint die Ablenkung die negative Stimmung einer depressiven Person kurzfristig zu lindern, jedoch die Probleme nicht zu lösen und somit längerfristig die Depression zu verschlimmern.
Im Gegensatz dazu konzentriert sich der grüblerische Denkprozess wiederholt und beharrlich auf die eigenen depressiven Symptome, die möglichen Ursachen und Folgen dieser Symptome sowie auf die Tatsache, dass man depressiv ist. Das Grübeln ist also ein Gedanken- und Verhaltensmuster, das die Aufmerksamkeit des Einzelnen auf seine negativen Gefühle lenkt. Nolen-Hoeksema geht davon aus, dass das Grübeln über die eigenen Symptome wiederum die Symptome der Depression verstärkt und sogar verlängert. Infolgedessen ist es wahrscheinlicher, dass diese Symptome anhalten und selbst leichte bis mäßige depressive Symptome zu Episoden einer schweren Depression führen können. Studien zufolge stellt Grübeln einen Risikofaktor für Rückfälle/Rezidive sowie einen Prädiktor für chronische Verläufe depressiver Störungen dar. Über die Auswirkungen des Grübelns auf die Stimmung werden wir im zweiten Beitrag dieser Reihe informieren.
Der ursprüngliche Vorschlag der Reaktionsstil-Theorie von Nolen-Hoeksema unterscheidet zwischen zwei Komponenten des Grübelns: symptomorientiertes und selbstbezogenes Grübeln. Das symptomfokussierte Grübeln bezieht sich auf die eigentliche (oben beschriebene) Bedeutung des Grübelns, nämlich die Konzentration auf die eigenen Symptome, Ursachen und Folgen. Jedoch beobachtete Nolen-Hoeksema noch eine weitere Form des Grübelns, nämlich mit den Aspekten der Selbstanalyse und Selbstisolation. Diese Komponente scheint im Gegensatz zum symptomfokussierten Grübeln weniger Einfluss auf die depressiven Symptome zu haben und wird daher weniger beachtet. Deshalb beziehen sich die Beiträge von Clienia zum Thema «Grübeln» auf die symptomfokussierte Komponente.
Aus klinischer Sicht besonders zu beachten ist, dass der grüblerische Denkprozess äusserst stabil ist und oftmals von den Patient/-innen als unkontrollierbare Gedanken empfunden wird. Wie genau sich das auf die Stimmung der betroffenen Person auswirkt, beschreiben wir im zweiten Beitrag.