Teil 1: Ursachen und Häufigkeiten
Um die Diagnose einer Intellektuellen Entwicklungsstörung zu stellen, wird eine Reihe von Abklärungen durchgeführt. Eine sorgfältige Abklärung ist besonders wichtig, da es bei der Intellektuellen Entwicklungsstörung kein einheitliches Symptombild gibt. Die Störung präsentiert sich ganz unterschiedlich. Entsprechend müssen die Ursachen abgeklärt und die Befunde vieler Untersuchungen gemeinsam berücksichtigt werden. Die Diagnostik erfolgt gemeinsam mit einer ätiologischen Abklärung. Verschiedene Schritte im Verlauf der Abklärung können die Erhebung der Anamnese, eine körperliche und neurologische Untersuchung, eine genetische Untersuchung, eine Stoffwechseluntersuchung, apparative Diagnostik und die Erhebung des Intelligenzprofils umfassen. Im Folgenden werden die Untersuchungsschritte einzeln vorgestellt.
Ätiologische Abklärung
Eine ätiologische Abklärung beschreibt die Suche nach der Ursache der Störung. Dies sollte so früh wie möglich geschehen. Da der Intellektuellen Entwicklungsstörung behandelbare Ursachen zugrunde liegen können, kommt der ätiologischen Abklärung eine grosse Bedeutung zu. Weiter ist es für die Angehörigen von Betroffenen oft eine Entlastung, die Ursachen zu kennen, auch wenn dies nichts an der somatischen Behandlung oder der Prognose ändert. Eine organische Abklärung wird durchgeführt, um eine gegebenenfalls notwendige organische Behandlung anwenden zu können. Diese kann zwar bestehende Defizite nicht rückgängig machen, dafür aber möglicherweise das Fortschreiten einer Erkrankung verhindern. Eine organische Abklärung ist bereits beim Vorliegen unspezifischer Symptome sinnvoll, denn spezifische Symptome einer Intellektuellen Entwicklungsstörung zeigen sich häufig erst beim Fortschreiten der Erkrankung. Eine erste orientierende Einschätzung kann ungefähr zwischen dem 2. bis 3. Lebensjahr vorgenommen werden. Es ist daher nicht zu empfehlen, für eine Abklärung zu lange abzuwarten. Eine organische Abklärung kann bereits indiziert sein, wenn bei Kleinkindern Entwicklungsverzögerungen oder -störungen vorliegen, da ihnen eine Intellektuelle Entwicklungsstörung zugrunde liegen könnte.
Anamnese
Die Anamnese wird anhand der Befragung mehrerer Personen erhoben. Auch betroffene Personen sollten soweit möglich mit einbezogen werden. Dabei werden Anhaltspunkte zur kognitiven Leistungsfähigkeit, Sprache, Motorik, Lernfähigkeit und Emotionalität erhoben. Weiter sind die soziale Anpassungsfähigkeit, das Verhalten in sozialen Situationen, aber auch kommunikative Fähigkeiten sowie Persönlichkeit und Temperament von Interesse. Zuletzt werden Eigenständigkeit und lebenspraktische Fertigkeiten erhoben. Ein besonderes Augenmerk wird auf Risiken während der Schwangerschaft oder Geburt, die Meilensteine der frühkindlichen Entwicklung, belastende Ereignisse, die Entwicklung im Allgemeinen, vorhandene Erkrankungen und das Vorliegen von Störungen in der Familie gelegt. Für die Anamnese werden Familienmitglieder, insbesondere die Eltern, aber auch Personen aus dem schulischen oder sozialen Kontext befragt.
Die körperliche und neurologische Untersuchung
Die Anamnese und die körperliche sowie neurologische Untersuchung bilden gemeinsam die Basis der organischen Abklärung. Die körperliche und neurologische Untersuchung umfassen die Messung der Körperlänge, des Gewichts und des Kopfumfanges. Weiter wird auf ungewöhnliche Proportionen sowie ungewöhnliche Grösse und Fehlbildung von Organen untersucht. Auch äusserlich erkennbare Fehlbildungen werden erfasst. Die Haut wird auf Auffälligkeiten der Pigmentierung abgesucht, und Bewegungsauffälligkeiten werden, falls vorhanden, festgehalten. Es folgen eine Untersuchung auf den Reflexstatus, die Hirnnerven, Kraft und Sensibilität. Das Auge wird auf verschiedene Merkmale hin untersucht. Zuletzt wird eine Hörprüfung vorgenommen sowie die Bewusstseinslage eingeschätzt.
Genetische Untersuchung
Wenn die Ätiologie weder aus der Anamnese noch aus der körperlichen neurologischen Untersuchung hervorgegangen ist, so wird eine genetische Untersuchung vorgenommen. Bei mehr als 50% der Betroffenen liegt eine genetische Ursache vor. In einer ersten Stufe wird eine sogenannte Panel-Diagnostik durchgeführt. Dabei werden genetische Ausprägungen oder Auffälligkeiten, die im Zusammenhang mit der Intellektuellen Entwicklungsstörung stehen, gesucht. Chromosomenveränderungen sind eine der wichtigsten Ursachen für Intellektuelle Entwicklungsstörungen, z.B. beim Down-Syndrom (Trisomie 21). Molekulargenetische und molekularzytogenetische Methoden ermöglichen die Diagnostik submikroskopischer Chromosomenveränderungen. Viele syndromale Formen der Intellektuellen Entwicklungsstörung sind inzwischen bekannt. Unspezifische Formen beschränken sich fast ausschliesslich auf das X-Chromosom. Jungen sind häufiger von diesen Defekten betroffen. Die häufigste Form einer X-chromosomalen Intellektuellen Entwicklungsstörung ist das Fragile-X-Syndrom.
Stoffwechseluntersuchungen
Gewisse Befunde wie Nahrungsverweigerung, Wachstumsstörungen oder psychomotorische Entwicklungsstörungen können auf eine Stoffwechselerkrankung hindeuten. Bei einer Stoffwechseluntersuchung werden das Blut, der Urin sowie Flüssigkeit aus dem zentralen Nervensystem auf unterschiedliche Marker untersucht.
Apparative Diagnostik
Die apparative Diagnostik kann im Verlauf der Abklärung zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingesetzt werden. Mithilfe eines Elektroenzephalogramms (EEG) kann die Aktivität im Hirn aufgezeichnet werden. Es können Unregelmässigkeiten oder Besonderheiten festgestellt werden, die gemeinsam mit anderen Befunden interpretiert werden. Eine Bildgebung, z.B. eine Magnetresonanztomografie (MRT) kann sinnvoll sein. Sollten bei der Anamnese und körperlich neurologischen Untersuchung keine Besonderheiten festgestellt werden, so erfolgt eine apparative Diagnostik standardmässig nach der genetischen Untersuchung, wenn Hinweise hierfür gegeben sind.
Erhebung des Intelligenzprofils
Die Erfassung der intellektuellen Leistungsfähigkeit ist wichtig, um eine Zuordnung zur Gruppe der Betroffenen mit Intellektueller Entwicklungsstörung vornehmen zu können. Hierbei geht es nicht nur um die Erfassung von Einbussen kognitiver Fähigkeiten, sondern auch um Ressourcen, um den Förderbedarf optimal einschätzen und umsetzen zu können.
Die Erhebung des Intelligenzprofils erfolgt aus dem klinischen Eindruck der Untersuchungsperson, standardisierten Verfahren und Schilderungen von Bezugspersonen. Standardisierte Verfahren enthalten mehrere Aufgaben, die durch die betroffene Person gelöst werden sollen. Die Resultate werden dann mit bestehenden Normen verglichen. Schilderungen der Bezugspersonen können Hinweise auf Schwierigkeiten in der Schule oder im Alltag geben, die eine Reflektion des Intelligenzprofils darstellen könnten.