Wahnhafte Störung: Patientengeschichten

Dr. Kathrin Doege, Oberärztin am Clienia Psychiatriezentrum Wetzikon, behandelt Menschen mit Wahnvorstellungen. In den Jahren ihrer Berufstätigkeit hat sie verschiedene typische und weniger häufige Wahnvorstellungen erlebt. Ihnen allen ist gemeinsam: Sie haben massive Auswirkungen auf den Alltag der Betroffenen. Um unseren Leserinnen und Lesern einen Einblick in die Welt ihrer Patienten zu ermöglichen, schildert die Oberärztin hier beispielhafte Dialogszenen, wie sie in ihrem Therapiealltag vorkommen könnten. Die Szenen sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht auf reale Personen oder Gespräche zurückzuführen.

Hypochondrischer Wahn

«Eine typische Form von Wahn ist hypochondrischer Wahn. Die Patienten leiden unter extremer Angst, zu erkranken oder gar zu versterben. Stellen Sie sich folgende Szene vor: Ein Patient spürt plötzlich während der Therapiestunde ein Stechen im Brustbereich. Er zuckt zusammen, wird bleich und ängstlich. «Da ist es wieder, das Stechen! Jetzt habe ich einen Herzinfarkt. Ich muss sofort ins Spital, bitte rufen Sie die Ambulanz».  Ich versuche ihn zu beruhigen, erkläre, dass er jetzt schon bei drei Kardiologen gewesen sei, dass wir unzählige EKGs gemacht hätten und wirklich alles in Ordnung sei. «Das Stechen, was sie spüren, entsteht durch Muskelverspannungen, weil sie so angespannt sind und Angst haben», sage ich.  Aber ich dringe einfach nicht zu ihm durch, er läuft panisch in meinem Zimmer umher, verlangt nach einer Ambulanz. Er kann nicht verstehen, dass nicht sein Herz, sondern seine Angst das Problem ist.»

Verfolgungswahn

«Ein Wahn, der relativ häufig vorkommt, ist Verfolgungswahn. Ich will Ihnen eine beispielhafte Szene schildern, wie sie so oder ähnlich vorkommen kann: Eine Patientin und ich sitzen im Therapiezimmer. Die Patientin schaut aus dem Fenster auf die Strasse und schweigt. Dann duckt sie sich auf einmal.

«Ist alles in Ordnung?» frage ich.

Sie schweigt.

«Was sehen Sie, beunruhigt Sie etwas da unten?»

«Da ist einer von ihnen. Sehen sie, wie langsam er geht. Und jetzt schaut er zu unserem Gebäude herüber.»

Ich schaue nach draussen und sehe einen mittelalten, unauffällig gekleideten Mann die Strasse entlanggehen. Ab und zu schaut er zu unserem Gebäude.

«Was denken Sie, wieso schaut er zu uns herüber?»

«Na, weil er zu der Truppe gehört, die hinter mir her ist.»

«Jetzt öffnen Sie einmal ihren Blick, von dem Mann weg auf die ganze Strasse, rechts und links. Gibt es da etwas, was noch Ihre Aufmerksamkeit anzieht? Was die Aufmerksamkeit dieses Mannes auch angezogen haben könnte?»

«Nein»

«Und was ist mit dem Fensterputzer hier am Gebäude?»

Scheinschwangerschaft

«Eine für mich besonders dramatische Form von Wahn ist Scheinschwangerschaft. Zum Glück kommt sie nur sehr selten vor. Ich erinnere mich an folgende Szene, die ich noch als Assistenzärztin vor vielen Jahren erlebt habe: Eine junge Frau lag auf der Untersuchungsliege ihrer Gynäkologin. Diese fuhr mit dem Ultraschallkopf über ihren Bauch. Die junge Frau starrte auf den Bildschirm, der das Ultraschallbild zeigte.

«Aber da, das Schwarze ist doch das Baby. Ich habe doch ein Baby.»

Die Gynäkologin widersprach ihr. «Nein, das Schwarze ist nur die leere Gebärmutter. Sie sind nicht schwanger, Sie haben kein Kind im Bauch.»

Die Frau aber wollte es nicht glauben, egal wie deutlich die Gynäkologin ihr erklärte, dass sie nicht schwanger sei.

«Doch, doch. Das Kind ist da. Ich spüre es. Meine Brüste sind gespannt. Mir ist immer übel. Ich spüre es. Jetzt hat es endlich geklappt. Endlich».

Die Frau hatte tatsächlich diese Symptome (gespannte Brüste, Übelkeit), und es gelang auch in mehreren Sitzungen nicht, die Frau davon zu überzeugen, dass sie nicht schwanger war.»

Teil 1: Symptome und Diagnose

Teil 2: Ursachen

Teil 3: Behandlung